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Die Hauptstadt von Lingeria war keine schöne Stadt. Um die Wahrheit zu sagen, außer dem Präsidentenpalast und einigen wenigen Verwaltungsgebäuden, könnte der Rest der Stadt auch den liberalsten Architekten der Welt in die lebenslängliche Verzweiflung treiben. Auch die Behauptung, dass die Stadtbewohner ein angenehmes und sorgloses Leben führten, müsste man als eine massive und völlig unbegründete Übertreibung einschätzen. Ein durchschnittlicher Hauptstadtbürger war ein frustrierter, ohne Hoffnung in die Zukunft blickender Mensch, dessen einzige Lichtpunkte in seiner sonst trostlosen, düsteren Existenz das Hirsebier und die Spiele der Fußballnationalmannschaft waren. Diese Lichtpunkte standen übrigens in einer engen, fast symbiotischen Wechselbeziehung, kein Wunder also, dass zu den Sponsoren der Nationalmannschaft hauptsächlich die Hirsebierproduzenten gehörten. Dem Nationalfußball schien es nicht besonders zu schaden. Beim letzten Africa Cup hätte die Mannschaft von Lingeria beinahe den ersten Platz besetzt und dass sie schließlich nur auf dem zweiten Platz landete, war nur der plötzlichen Erkrankung des Nationalschamanen, der zu dem großen Finalspiel überhaupt nicht erschien und dadurch der Zauberei des Gegners ein freies Feld überließ, zuzuschreiben. Böse Zungen behaupteten, die geheimnisvolle Krankheit sei durch den übermäßigen Konsum von Sponsorenprodukten verursacht, solch eine Verleumdung konnte aber kein fußballliebender Lingerianer ernsthaft glauben.
Wie auch immer, diese geradezu religiöse Anhimmelei des Fußballs war ein Faktor, der Lingeria gewissermaßen in einer Reihe mit den reichsten und mächtigsten Länder der Welt platzierte. Kein Europäer könnte mehr durch die Niederlage seiner Nationalmannschaft leiden, kein Asiate seine Euphorie nach dem Sieg ausdrucksvoller zeigen, und was die Amerikaner und Australier betrifft, die waren in der Sache Fußball den Lingerianern auf eine augenfällige Weise zivilisatorisch unterlegen. In der großen Menschheitsfamilie, die eigentlich nur noch durch die Liebe zum Fußball vereint ist, gehörten die Lingerianer zu den eifrigsten Bekennern und Beschützern der Werte.
Die Hauptstadt von Lingeria war keine schöne, dafür aber eine sehr neugierige Stadt. Jedes Gerücht durchwanderte alle Stadtviertel mit Lichtgeschwindigkeit, jeder Klatsch wurde Freunden, Verwandten, sogar flüchtigen Bekannten als Vor-, Haupt- und Nachspeise genüsslich serviert. Der Lieferant eines besonders schmackhaften Tratsches konnte garantiert mit der unendlichen Dankbarkeit und unbegrenzten Hochachtung seiner Nächsten rechnen.
Mujambo Oharara war zwar nur ein unbedeutender Beamter, ein kleines Drehrädchen in der komplizierten Maschinerie des Präsidentenpalastes, seine untergeordnete Position stand aber in keinem Zusammenhang zu seiner hoch entwickelten Fähigkeit, alle Sachen, die nicht unbedingt für seine Augen und Ohren bestimmt waren, zu sehen und zu hören. Eine wenig geöffnete Tür, eine etwas gehobene Stimme, unvorsichtig auf dem Schreibtisch liegen gelassene Papiere – wie konnte ein Beamter mit der niedrigsten Gehaltsstufe der Versuchung, wenigstens in der informellen Hierarchie gut Informierter eine Leitersprosse hinaufzusteigen, widerstehen? Die einzige ehrliche Antwort lautet: Er konnte nicht. Es war also durchaus verständlich und psychologisch absolut begründet, dass Mujambo vor der Tür, die die etwas verschleierten Stimmen des Präsidenten, des Premierministers und des Außenministers durchließ, einen kurzen Halt machte.
- Wir können es nicht einfach so lassen, sprach der Präsident, als ob nicht genug wäre, dass die Deutschen unseren Staatsbürger übel zugerichtet haben, mussten sie noch unsere Heiligkeiten entweihen, unsere Ehre schänden! Unser Nationalstolz, unser nationales Selbstwertgefühl !!...
- Herr Präsident, - unterbrach ihn der Premierminister – ich erlaube mir, Sie zu erinnern, dass Deutschland unser wichtigster Partner auf dem europäischen Markt ist, unser Handelsumsatz im letzten Jahr betrug...
- Nein, nein, kommen Sie mir jetzt nicht mit dem Handelsumsatz ! – Der Präsident war rot vor Zorn – Geld ist nicht alles! Manche Länder scheuen nicht, ihre Prinzipien auch auf den internationalen Foren zu verteidigen! Denken Sie an Polen – diese mutigen Leute haben sich in Brüssel für ihre christlichen Werte eingesetzt, auch wenn es für einige europäische Bürokraten nach Mittelalter gerochen hat. Ich werde auch nicht scheuen...
- Meine Herren! – mischte sich der Außenminister etwas zaghaft ein – Haben Sie in Betracht gezogen, dass die Einschätzung der Lage durch unseren Botschafter in Berlin, vorsichtig gesagt, nicht immer ganz maßgebend ist?
- Nicht maßgebend! – Der Präsident, nach dem Schall urteilend, musste auf den Tisch mit der Faust geknallt haben - Den faktischen Stand der Sache bestätigen selbst die deutschen Quellen. Unser Fußball wurde beleidigt, unser Spieler verspottet und niedergemetzelt, was brauchen Sie noch? Ich werde sofort eine Protestnote aufsetzen!
- Wir müssen aber – sagte der Premierminister besorgt – mit ernsthaften diplomatischen Konsequenzen...
In der Tür auf dem Flurende erschien eine schlaksige Gestalt mit einem Aktenordner unterm Arm. Mujambo hob das Blatt, das er weitsichtig vorher fallen ließ, auf und begab sich mit der unschuldigen Miene, als ob er nie im Leben vor einer fremden Tür gelauscht hätte, auf sein Zimmer.

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