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Es gibt Städte, in denen die öffentliche Meinung sich nicht in der Zeitungsredaktion, im Studentenklub oder im Rahmen einer Bürgerinitiative, nicht mal in den Kneipen, sondern einfach auf dem Markt bildet. Zu solchen Städten zählte auch die Hauptstadt von Lingeria. Der Markt war hier ohne Zweifel der Nabel der Welt, der den Tratsch, die Urteile und die Emotionen empfing, verbreitete und gestaltete. Hier, zwischen dem getrockneten Fisch, enthäuteten Ziegenhälften, staubigen Maniokrüben und den Federn vom weißen Hahn, die bekanntermaßen das beste Mittel gegen die Feindlichkeit unserer Nächsten sind, entstand das empfindliche Gewebe aus geteilten Weltbildern, gemeinsamen Erwartungen und – last but not least – Handlungsfertigkeiten, wenn auf das kollektive Hühnerauge zu stark getreten wurde.
Die ungeschriebenen Geschäftsregeln geboten den Verkäufern, alle Erzähler, Spaßvögel und Lieferanten der neusten, ofenfrischen Informationen, die rund um den Stand immer eine große Gruppe potentieller Käufer ansammelten, hoch zu schätzen. Selbstverständlich erfreute sich Mujambo auf dem Markt, im Gegensatz zum Präsidentenpalast, einer fast königlichen Position und wusste unverhohlen davon Profit zu ziehen.
- Und, ich sag euch – erzählte er verbissen – der Präsident wollte den Weißen zeigen, wo es langgeht, aber der Premierminister... Er wusste nur den Schwanz wie ein Hund einzuziehen und über die Wirtschaft zu labern. Und der Außenminister, der ist wirklich ein Riesenfeigling, vielleicht glaubt er, dass er sich alles gefallen lassen muss, wie zu den Kolonialzeiten...
- Tod den Kolonialisten! – rief ein zahnloser Greis, durch das Stimmengewirr seinen Hirsebierträumen gnadenlos entrissen.
- Das habe ich auch eben gesagt! – versicherte Mujambo, der seine augenblickliche Popularität in vollen Zügen genoss und es jedem recht machen wollte. – Sie schlagen uns, verhöhnen unseren Fußball, kann man sich etwas Grausameres vorstellen?
Das drohende Gebrumme aus weiteren Reihen ließ keinen Zweifel, dass die aufmerksam zuhörende Volksmenge diese barbarischen Taten auch für die höchste Degenerationsstufe hielt, die der Mensch erreichen kann.. Ohne an sein zwar niedriges, immerhin aber sicheres Gehalt, an seine vielleicht in dem Moment unwiederbringlich verlorene Beförderungsmöglichkeit zu denken, rief Mujambo:
- Sie wollen uns erniedrigen! Sie wollen uns vernichten! Und unsere Regierung tut nichts dagegen! Wollen wir das weiter dulden?
Wildes Gejohle: "Nie im Leben!", "Wir werden es ihnen zeigen!", "Es lebe Lingeria!", "Es lebe unsere Nationalmannschaft!" war die Antwort. Immer mehr Menschen scharten sich um den Stand herum. Die Luft schien von der kondensierten Erregung zu vibrieren. Ein Kind fing an zu weinen, sein Vater versuchte, es aus der Menge wegzubringen, was den Tumult noch steigerte. Im zunehmenden Krach konnte man den wuchtig gestikulierenden Redner kaum noch hören. Alle warteten auf etwas, auf eine Lösung, eine Katharsis, einen Höhepunkt. Und den lieferte Mujambo mit dem Aufruf:
- Zum Präsidentenpalast !!!
Der neue Volkstribun, würdiger Nachfolger von Spartakus, Mahatma Gandhi und Martin Luther King war geboren.

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