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"...wir dürfen die geopolitische Lage des Staates und die lingerianische Geschichte nicht aus den Augen verlieren. Dieses arme, ethnisch heterogene und seit Jahrhunderten durch aggressive Nachbarn oder koloniale Mächte ausgebeutete Land kristallisierte sein Nationalstolzgefühl rund um den Fußball. Die Nationalmannschaft hat im Grunde die Stammesgötter ersetzt. Ein unbedachter Angriff oder Zweifel an den lingerianischen Fußball verletzt ernsthaft die Integrität jedes durchschnittlichen Lingerianers. Dies ist der Hintergrund des Aufruhrs in diesem kleinen aber kämpferischen Land."
Cut! Die Nachrichtenredaktion sollte zufrieden sein. Es war gar nicht so leicht, so viel Wissen über den Stand der Dinge innerhalb einer Minute zusammenzufassen, Peter Wirbel hatte es aber geschafft. Das neue Genie des Journalismus. Der neue Star der Massenmedien.
Wirbel war stolz auf sich selbst. Vor einem Monat noch war er ein Niemand, ein unbekannter Mitarbeiter einer unbedeutenden Zeitung. Seine Chance hatte er aber rechtzeitig erkannt und gepackt, dass musste man ihm lassen. Er hatte wirklich viel über Lingeria gelernt und – da er über den Fußball schon früher fast alles wusste – wurde er zu dem Experten, den man zu jeder Sendung einlädt, den man mit Bewunderung nach seiner Meinung fragt und dessen Gesicht aus dem Bildschirm praktisch nicht verschwindet.
Die Popularität hatte ganz entschieden fantastische Seiten. Es gab jede Menge Blondinen, die nach der Entdeckung, dass sie sein Gesicht aus dem Fernsehen kannten, keine weiteren Fragen stellten. Und der Bäcker hatte ihm schon zweimal Brötchen fünf Minuten nach dem Ladenschluss verkauft. Das Schönste aber, das Geilste, das Umwerfendste war das Gefühl, einen klitzekleinen Anteil an der Macht zu haben. In den Kreisen, in den er jetzt verkehrte, konnte man Einiges hören und Einiges ins richtige Ohr zuflüstern. Ein Satz bei Christiansen konnte die politische Diskussion in eine neue Bahn lenken. Eine einzige Information, die er beim unvorsichtigen Couloirgeschwätz zufällig schnappte, konnte das Leben von Tausenden verändern. "Schön ist es auf der Welt zu sein" sang Peter Wirbel beim Rasieren und dann beim sorgfältigen Binden eines Krawattenknotens.
Er wollte sich überhaupt nicht daran erinnern, wie das alles angefangen hat. Eine Reportage in einem Provinzstädtchen? Lächerlich! Er war schon immer zu den größten Taten prädestiniert. Alles, was er zu tun hatte, war, seinem Schicksal zu folgen. Und das hatte er getan. Oh ja, das hatte er getan!

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