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Als Herr Gutmann am Samstagmorgen in der Wohnung seiner Schwägerin aufwachte, war seine Ehefrau noch tief in ihrem Margaritaschlaf versunken. Der Tag war sonnig und kalt, die frische Luft von draußen schien durch die geschlossenen Fenster ins Zimmer förmlich einzudringen und das weitere Faulenzen im Bett irgendwie schamhaft zu machen. Herr Gutmann glitt vorsichtig unter der Bettdecke hervor und machte ein paar Schritte in Richtung Tür. Der pochende Schmerz breitete sich in seinem Kopf mit der Lichtgeschwindigkeit aus, sein Magen wollte die Erinnerungen an die gestrige Whisky-Bier-Mischung schleunigst loswerden und die Beine wollten den Rest seines Körpers nicht so richtig tragen. Und dieses zitternde Gefühl überall, in jeder Körperzelle, es war so unangenehm, dass er fast losheulen könnte. Kaffee, er brauchte dringend einen Kaffee. Und eine Kopfschmerztablette. Oder noch besser zwei. Und ein mit Schinkenwurst belegtes Brötchen. Am besten mit Mayo.
Herr Gutmann kannte sich in der Wohnung aus, schließlich stieg er hier bei jedem Aufenthalt in Hirnplatt ab. Er schleppte sich in die Küche hin, fast ohne die Augen aufzumachen. Im tiefen Inneren hoffte er, da seine Schwägerin anzutreffen, die als Krankenschwester ein ganzes Arsenal an Medikamenten besaß und manche von ihnen, das hatte er schon geprüft, waren gegen den Kater überraschend wirksam. Und sieh mal an, da saß sie tatsächlich, zwar mit den tiefen, dunkelblauen Ringen um die Augen, aber schon angezogen und offensichtlich bereit, einem neuen Tag die Stirn zu bieten. Mit dem Seufzer der Erleichterung ließ sich Herr Gutmann auf den Stuhl nieder und griff nach einem Becher frischgemachten Kaffees, den ihm die barmherzige Hand der Schwägerin reichte.
Zwei Kopfschmerztabletten und ein Schinkenwurstbrötchen später, sah die Welt schon ganz anders aus. Der Magen, mit einer großen Portion Mayo geschmiert, hatte sein abendliches Trauma vergessen und war fast bereit, ein Lobeslied an den schönen Morgen zu singen. Trotzdem hatte Herr Gutmann ein undefinierbares, mulmiges Etwas-ist-nicht-in-Ordnung -Gefühl. Die gelben Blätter kreiselten tänzerisch in der Novemberluft, der Magen schnurrte wie eine zufriedene Katze, die Schwägerin schwatzte über Gott und die Welt, über diese blöde Zicke Waltraud Miesenmeier und über den unverschämt hohen Preis der Gurken bei Extra, über ihre Patienten... Auf einmal sprang aus dem monotonen Gemurmel ein Satz heraus , und rüttelte mit der Kraft eines Wasserfalls Herrn Gutmanns Hirnzellen aus ihrem Nickerchen auf :
- Und ich sag´ dir, dieser Mann, Lingerianer oder so, diese Länder haben alle so komische Namen, die vergess ´ich immer, dieser Schwarze also, in den könnte ich mich glatt verlieben. So ein schönes Exemplar! Groß, aber proportional gebaut, wunderbare, glänzende Haut und diese Muskeln... Erinnert ein bisschen an Denzel Washington, nur etwas dunkler und kräftiger. Er hatte einen ganz schlimmen Beinbruch und er ist damit noch ein paar Stunden einfach weiter gelaufen, als ob nix passiert wäre. Er muss doch höllische Schmerzen gehabt haben, die hat er aber so stolz und wortlos ertragen, ich sag´ dir, so was hab´ ich noch nie erlebt...
Das war es! Herr Gutmann hatte den Eindruck, dass das Schicksal alle Elemente wie in einem gut konstruierten Roman zusammenfügte. In seinem Leben hat er dem Zufall so wenig überlassen und jetzt auf einmal bekommt er von ihm so ein Geschenk! Alles, was er gestern registriert und beinahe vergessen hatte, war mit einem Schlag wieder da, frisch und präsent, wie auf dem silbernen Tablett.
Herr Gutmanns Nächstenliebe war grenzenlos und unermesslich, er war immer bereit, der Menschheit zu dienen, selbst nach dem guten Frühstück, im Schlafanzug und mit den ungeputzten Zähnen. Und dass die Aufdeckung eines Riesenskandals im Herzen der westlichen Demokratie auch einen Riesenumbruch in seiner Karriere bedeuten könnte, das würde der Menschheit doch nicht schaden. Aufgeregt fragte er die Schwägerin:
- Hat der Lingerianer erzählt, wie es zu diesem Beinbruch gekommen war?
- Nein, hat er nicht – antwortete die Schwägerin. Auch wenn sie mit dem plötzlichen Interesse seines Schwagers an der Sache etwas überrascht war, ließ sie es sich nicht merken. – Wir haben ihn gefragt, er sagte aber nur, dass er darüber nicht reden möchte und dann konnte man kein Wort mehr aus ihm herauspressen.
- Na klar! – murmelte Herr Gutmann unter der Nase – Bestimmt hatte er Angst!
- Was sagst du da? - Die Schwägerin machte große Augen. Herr Gutmann hatte keine Lust, ihr die ganze Sache zu erklären. Er war gerade dabei, die Journalistendatei in seinem Kopf durchzusuchen.
- Ach, nichts, – entgegnete er – hab´s nur so gesagt.

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